Gerhard Andrey Kolumne

Themen: E-Government, Kolumne


Wenn die Digitalisierung immer weiter voranschreitet, die Zugänglichkeit jedoch stagniert, dann machen wir bei der Inklusion insgesamt einen Rückschritt, schreibt Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey in seiner Parldigi-Kolumne.

Vor bald 20 Jahren hatte ich die Möglichkeit, das erste Mal einen barrierefreien Internet-Auftritt zu programmieren. 2004 wurde nämlich für Behörden die Pflicht eingeführt, digitale Zugänge der öffentlichen Hand barrierefrei zu gestalten. Mit unserer Firma hatten wir mit „dievolkswirtschaft.ch“ damals das Glück, eine der ersten fünf barrierefreien Vorzeige-Webseiten des Bundes bauen zu dürfen. Dabei wurde die Latte hoch angesetzt: Es galt, eine der höchsten Zertifizierungsstufen an Barrierefreiheit zu erreichen. Nicht nur haben wir dieses Ziel erreicht, sondern auch ganz viel gelernt. Zum Beispiel, dass es zwar etwas Aufmerksamkeit und einen Zusatzaufwand bedarf, aber auch keine Hexerei ist.

Ich war super motiviert. Schliesslich erachtete ich es als Selbstverständlichkeit, den Cyberspace barrierefrei zu gestalten. Denn die Digitalisierung birgt ein immenses Potenzial, damit Menschen mit Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Nicht nur dachte ich, dass dieses Thema in der öffentlichen Beschaffung selbstverständlich systematisch berücksichtigt wird, sondern dass es zum Industriestandard werden würde und die privaten Unternehmen nachziehen.

Barrierefreiheit ist beim Bund nicht Standard

Ich wurde enttäuscht. Der kurze Anfangsenthusiasmus ist nämlich einer Phase der Ignoranz gewichen. Während Jahren musste man einige Behörden sogar an ihre eigenen Pflichten erinnern und Barrierefreiheit als Anbieter einfordern. Es ist offensichtlich kein Reflex entstanden, diesen Aspekt ganz natürlich einzubeziehen. Auch heute noch: Jüngstes Beispiel ist die digitale Volkszählung, welche Anfang Jahr lanciert wurde und nicht barrierefrei gestaltet ist. Das darf nicht passieren!

Es hat zwar massive technologische Entwicklungen gegeben und die Situation hat sich auf der Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden tatsächlich verbessert. Betrachtet man jedoch den privaten Sektor, so sieht die Bilanz düster aus. Eine Studie der Stiftung Zugang für alle – dem Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit – aus dem Jahr 2020 ergab zum Beispiel, dass von 41 getesteten grossen Online-Shops nur 10 als gut oder sehr gut nutzbar eingestuft werden konnten. Vierzehn mussten als gänzlich unzugänglich klassiert werden. Eigentlich erstaunlich, denn mit mehr Inklusion wird auch ein grösseres Publikum angesprochen und nicht nur Blinde und Sehbehinderte, sondern auch ältere Menschen. Die Zusatzaufwände sind natürlich stark von der jeweiligen Anwendung abhängig. Die wahren Kosten sind aber nicht diese Mehraufwände, sondern die entgangene Reichweite.

Zu viele digitale Hürden bedeuten ein Rückschritt an Inklusion

Die Digitalisierung wird in immer mehr Bereichen des Lebens zum Standard und ersetzt papierene Prozesse oder Schalter mit Menschen gänzlich. Wenn die Digitalisierung immer weiter voranschreitet, die Zugänglichkeit jedoch stagniert, dann machen wir bei der Inklusion insgesamt einen Rückschritt. Das muss sich ändern! Aus diesem Grund habe ich vor dem Sommer einen Antrag eingebracht, in dem auch der Privatsektor aufgefordert wird, die Barrierefreiheit zu verbessern und verbindliche Regeln aufzustellen. Der Bundesrat empfiehlt erfreulicherweise den Vorschlag zur Annahme. Das Parlament wird sich in ein paar Monaten darüber beugen müssen, ich bin aber zuversichtlich, hier eine Mehrheit schaffen zu können.

Die Kampagne „Digitale Barrierefreiheit. Jetzt.“ des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands dürfte dabei sehr helfen. Sie bringt dem Thema die nötige mediale Aufmerksamkeit. Digitale Barrieren sind für Sehende nämlich unsichtbar. Es geht finanziell um wenig, aber für Menschen, die mit einer Behinderung leben, geht es um einen wesentlichen Gewinn an Selbstbestimmung, Autonomie und Lebensqualität.

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